Über Günther Seidel
Auzug aus diversen Ausstellungen und Preisen
1980 Bielefeld, Lessinghaus (Gruppenausstellung)
1985 Bielefeld, Technikerhaus (Einzelausstellung)
ab 1985 verschiedene Galerien
1988 Bad Oeynhausen, Wandelhalle (Einzelausstellung)
1989 Stadt Bielefeld, Freizeitzentrum (Einzelausstellung)
1989 Rathaus Brilon (Einzelausstellung)
1990 Dresden, Kunstausstellung Kühl (Gruppenausstellung)
1990 Bielefeld, Lessinghaus (Einzelausstellung)
1990 Bitburg, Offener Kunstpreis, Preisträger der „Goldenen Palette“
1994 Museum Beda, Siegerausstellung Offener Kunstpreis
1996 Sparkasse Bielefeld (Einzelausstellung)
1999/2000 Offener Kunstpreis Bad Schmiedeberg, 9 Höchstbewertungen, 5. Platz, Rembrand Plakette
Günther Seidels Vita – ihr ungewöhnlicher Verlauf lässt aufmerken. Obwohl er als Ingenieur mit Stolz auf einen eignen, in Bielefeld erfolgreich geführten Industriebetrieb blicken könnte, gerät dem 1921 im schlesischen Frankenstein Geborenen der Beruf mit fortschreitendem Lebensalter zunehmend zum Broterwerb. Ein künstlerischer Schaffensdrang, der sich in den 50er und 60er Jahren schon einmal literarisch artikulierte, ergreift 1977 voll und ganz Besitz von ihm. Fasziniert und angetrieben vom vollendeten Menschenbild der griechischen Antike, dessen Konturen er sich auf mehreren Studienreisen in den Mittelmeerraum verfestigt, beginnt Günther Seidel mit 56 Jahren ein plastisches Werk aufzubauen, in dem er den Weg traditioneller Plastik nicht verlassen möchte. Sehr schnell verdichten sich die anfänglich kleinformatigen Figuren des Autodidakten zu formsicheren eigenwilligen Metaphern elementarer menschlicher Empfindung. Ihre expressive Gebärdensprache beschreibt Leiden und Hoffnung ebenso wie Religion und Eros, Schmerz und Aufbegehren. Zugleich ist Seidels Vokabular für den Betrachter unschwer nachzuvollziehen. Die tief in Seidels Künstlerpersönlichkeit wurzelnden Ideale des Humanismus und ein ernstzunehmendes Darstellungsvermögen, das die Gefilde naiv-dilettantischer Schaffenslust schon frühzeitig überwand, verdienen Aufmerksamkeit und Respekt.
(Text von Martin Zimmerhof)
Eröffnungsvortrag zur Ausstellung von Plastiken von Günther Seidel im Freizeitzentrum Stieghorst vom 5.2 bis 24.2.1989
In Günther Seidel haben wir eine Künstler vor uns, der sich leidenschaftlich der traditionellen figürlichen Plastik verschrieben hat. Im Banne des künstlerischen Schaffensdranges treibt es ihn zu immer neuen Formversuchen, zur geistigen Durchdringung seiner vielfältigen Vorwürfe. Tiefschöpfend in den Quellen literarischer und mythologischer Themen, bedürfen seine Werke dennoch keiner Deutung, sie sprechen für sich selbst. Aber betrachten wir zunächst ihre geistigen Wurzeln, bleibt doch kein künstlerischer Schaffensprozess ohne geistigen Anstoß. Fasziniert und angetrieben vom vollendeten Menschenbild der griechischen Antike, hat Seidel in 12 Jahren ein plastisches Werk aufgebaut, das in seiner Ausdrucksqualität für sich selber spricht. Seine Hinwendung zur klassischen Formensprache erschöpft sich jedoch nicht in das „Vollkommene“ nachahmenden Kunstwerken, nichts ist ihm fremder als eine einseitige Ästhetisierung. Was Seidel in seinen Plastiken weiterleben lässt, ist jene Ausstrahlung der unauslöschlichen Würde des Menschen, die ihren Ursprung in der religiösen Erfahrung der Schöpfung hat.
Diese Ehrfurcht vor der Einzigartigkeit der Schöpfung durchzieht wie ein roter Faden sämtliche Werke. Die menschliche Würde offenbart sich, gleichsam bedingt durch die Macht der formalen Gestaltung, auch in ihrem Elend. Als Beispiel sei an dieser Stelle auf die Figuren der Gefesselten verwiesen. Der Adel ihrer Erscheinung lässt sie auch in äußerster Ohnmacht als Mensch erscheinen. Wer darin jedoch eine Flucht vor der Wirklichkeit anprangert, übersieht die zeitadäquaten Aussagen der Plastiken. Sie verleugnen nicht den Einfluss gegenwärtiger Probleme, die sich dem Betrachter mittels einer expressiven Gebärdensprache mitteilen. Als Kind seiner Zeit will und kann Seidel nicht der Gegenwart in ihrer Problematik ausweichen. Es ist ihm gerade ein Anliegen, die plastische Symbolsprache, in der Formen für Inhalte stehen, fortzuführen, also auch dem heutigen Menschen eine Spiegel vorzuhalten, in dem er sich wiederfinden kann – dies gilt sowohl in Hinblick auf elementare menschliche Empfindungen wie Hass, Liebe, Angst, als auch für die großen drängenden Probleme unserer Zeit, der Herrschaftsanspruch des Menschen über die Natur. In diesem Sinne ist auch der männliche Torso, in Umkehrung des Jesuswortes „Nicht wie du willst, sondern wie ich will“, betitelt. Hier wird nicht der Mensch gezeigt, der sich Gottes Willen unterwirft, er begehrt auf im Trotz, fordert noch, obwohl längst am Abgrund stehend. Doch seine hochgerissenen Arme können nicht mehr wirken, es sind nurmehr Stümpfe, anklagend und fordernd zugleich. Der in Hybris gefallene Mensch verharrt ohnmächtig in seiner Schuld. Ist es zu spät? Formal löst Seidel hier das Form-Inhalt-Problem in einer geschickten Bogenkomposition, die das Niedersinken des Ohnmächtigen mit dem Emporstreben des Aufbegehrenden verbindet – unterstützt von einer unruhigen Oberflächengestaltung.
Von seltener Innigkeit zeugt auch die Formsprache des „Liebenden Paars“, die gleichfalls ganz aus der Psychologie der Gestik lebt, ohne in leere Theatralik zu verflachen. In vielfältigen Variationen erprobt, führt Seidel hier das Umarmungsmotiv von Mann und Frau zur Vollendung. Es verdichtet sich zu einer Einheit von Zärtlichkeit und Melancholie. Die linke Hand der Frau ist schützend auf den Leib gelegt, eine signifikante Andeutung ihrer Schwangerschaft. Ist es noch recht in dieser Welt, die den Liebenden zugleich als unsichere Standfläche dient, neues Leben zu senden? Meisterhaft löst Seidel hier die Problematik von Sorge und Zuversicht in einer ihm eigenen Gestik von verblüffender Eindringlichkeit. Gleichfalls verzagt, erscheint der liebende Mann zugleich als Stütze der Frau. Seine stämmigen Beine nehmen sie gleichsam in die Mitte, umfassen, bieten Schutz und Halt.
Wer nun angesichts der hier erwähnten Einzelbeispiele glaubt, in Günther Seidel einen Künstler gefunden zu haben, dessen Schaffensdrang sich in einem eher ernsten Themenkreis erschöpft, der kennt nicht den ganz anderen, den schalkhaften Seidel – schließlich gehört auch der Schalk zum unendlichen Reichtum menschlicher Empfindung. Um nur ein signifikantes Beispiel zu nennen, so hat seine Interpretation des Walkürenrittes, dem germanischen Mythos, der von Jungfrauen nach Walhall geleiteten Helden, allen Pathos genommen und in eine – man möchte sagen – rauschhafte „Entführungsaktion“ umgewandelt. Nun liegen die „Helden“ rittlings über dem Pferderücken! Es lohnt sich jede Einzelheit näher zu betrachten.
Schließlich möchte ich diesen Vortrag mit Seidels letztem Werk, der großen stehenden „Anima“, die im Schaffensprozess des Künstlers die verschiedensten Ausprägungen erfuhr. Anima, zu deutsch „Seele“, interpretiert Seidel im Sinne der analytischen Psychologie C.G. Jungs als gegengeschlechtliches Seelenbild, das jeder Mensch in sich trägt. Sie ist ganz Geistwesen, deren Körperlichkeit sekundärer Natur ist. Leicht gebogen voll innerer Spannung dehnt sie sich dem Himmel der Erkenntnis entgegen und scheint, bedingt durch das eigenwillige Standmotiv gleichsam vom Boden abzuheben. Ihre ideale Schönheit ist für mich in einer ideelen, gedanklichen Ebene angesiedelt, in der sich der Schöpfungsdrang des Künstlers und sein Bemühen um dessen geistige Durchdringung offenbart.
Günther Seidel ist ein vom bildhauerischen Schaffensprozess Besessener, dessen Kraft und Phantasie noch lange nicht erschöpft sind. Wie können gespannt sein auf das, was er auch in Zukunft noch leisten wird.
Vortrag von Regine Keyhani